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19. Oktober 2019 - 40 Jahre

19. Oktober 2019 - 20 Jahre

Jana Lange und Kevin Schwarze wurden am 9. Oktober 2019 im Alter von 40 und 20 Jahren in Halle (Saale) von einem Rechtsterroristen ermordet.

Wer war Jana Lange?

Jana Lange war 40 Jahre alt, als sie am 9. Oktober 2019 beim Passieren der Synagoge in der Humboldtstraße in Halle (Saale) von einem Rechtsterroristen erschossen wurde. Sie hatte den Täter angesprochen, weil dieser gerade einen Sprengsatz hatte explodieren lassen. Als Jana Lange dann weiter ging, schoss ihr der Täter mehrfach in den Rücken. Nachdem sie reglos auf der Fahrbahn lag, schoss er erneut, wobei er sie entmenschlichend beleidigte. Freundinnen beschreiben Jana Lange als fröhliche Person. Als großer Schlagerfan war sie vielen Sänger*innen bekannt und sammelte Autogramme. Sie sang auch selbst in einem Chor in Halle.

 

Wer war Kevin Schwarze?

Kevin Schwarze wollte am 9. Oktober 2019 gemeinsam mit einem Arbeitskollegen in der Mittagspause Döner essen und hielt sich deshalb im Kiez Döner in der Ludwig-Wucherer-Straße auf. Nach Eindringen des schwer bewaffneten Täters in den Imbiss hatte Kevin Schwarze versucht, sich bei einem Kühlschrank zu verstecken. Der Täter schoss mehrfach auf ihn und verließ zwischenzeitlich den Laden, kehrte jedoch kurz darauf zurück und gab weitere Schüsse auf den zu dem Zeitpunkt noch lebenden Kevin Schwarze ab.

Kevin Schwarze wurde 20 Jahre alt. Er hatte erst kurze Zeit vorher eine Malerlehre begonnen. Sein Vater beschreibt ihn als einen selbstständigen jungen Mann, der gerne zur Arbeit ging und eine große Leidenschaft für den Fußballverein HFC hegte. Seine Integration in die Fanszene und die Aufnahme einer Ausbildung seien nicht selbstverständlich gewesen, sondern Ergebnis großer Anstrengung der Eltern und Kevins selbst, der mit einer geistigen Behinderung geboren worden war.

 

Was ist passiert?

An Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, versuchte ein schwer bewaffneter Antisemit, die in der Synagoge in Halle betenden Juden*Jüdinnen zu töten. Der 27-Jährige hatte seine Tat über mehrere Monate vorbereitet, in dem er unter anderem Waffen baute und die Synagoge ausspionierte. Seine Taten streamte er live mit einer Helmkamera, wobei er extrem rechte Musik abspielte und seine Handlungen auf Englisch einleitete und kommentierte. Zuvor hatte er Textdokumente ins Internet hochgeladen, die seine antisemitische, rassistische, antifeministische und antilinke Motivation belegen und in denen er den Bau der Tatwaffen beschrieb. Direkte Bezüge des Täters auf andere rechtsterroristische Taten sind nachweisbar für den Anschlag auf zwei Moscheen in Christchurch 2019, bei dem 51 Menschen getötet wurden und den Anschlag in Oslo und Utøya 2011, bei dem 77 Menschen starben. Der Täter bezog sich zudem mehrfach positiv auf den Nationalsozialismus und nutzte dessen Symbole.

In der Synagoge befanden sich zum Tatzeitpunkt 51 Menschen, Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Halle und eine für den Feiertag aus Berlin angereiste Gruppe. Eine weitere Person aus dieser Gruppe war nur wenige Minuten zuvor zu einem kurzen Spaziergang außerhalb aufgebrochen, als der Attentäter seinen Angriff begann und u.a. eine selbstgebaute Splittergranate über die Mauer warf. Granatsplitter beschädigten mehrere Gräber auf dem angrenzenden jüdischen Friedhof und schlugen auf der gegenüberliegenden Seite der Humboldtstraße in ein Fenster und die Wand eines Wohngebäudes ein. Der Sicherheitsmann, der Gemeindevorsteher und weitere Anwesende konnten gemeinsam das Gebäude sichern. Sowohl die massive Eingangstür als auch das danebenliegende Tor hielten den Schüssen und einem Sprengversuch stand.

Wenige Augenblicke nach der Detonation tötete er Jana Lange und zielte mit seiner Waffe auf weitere Passant*innen. Zudem versuchte er zwei Mal vergeblich, auf einen Autofahrer zu schießen. Dieser war ausgestiegen, um Erste Hilfe zu leisten und von dem Attentäter für einen Juden gehalten worden. Nur wegen einer Ladehemmung der Maschinenpistole blieb der Mann körperlich unverletzt. Um die Synagoge in Brand zu setzen warf der Attentäter schließlich noch mehrere Molotow-Cocktails über die Mauer, die aber kaum Schaden anrichten konnten.

Auf seiner anschließenden Autofahrt durch das Paulusviertel wählte er aus rassistischen Motiven einen Dönerimbiss als nächstes Anschlagsziel. Im „Kiez Döner“ erschoss der Täter Kevin Schwarze. Mehrere Gäste, Mitarbeiter des Imbiss und eine vorbeilaufende Passantin überlebten die Angriffe, die der Täter mit einer Nagelbombe, Sprengsätzen und Schusswaffen beging.

Auf der Straße schoss der Täter zudem auf einen Studenten und zwei Bauarbeiter, weil er sie für Muslime hielt. Mehrfach versagten die Waffen des Täters, unter anderem durch Ladehemmungen. Auf der Ludwig-Wucherer-Straße kam es schließlich zu einem Schusswechsel mit Polizist*innen – unter Gefährdung weiterer Menschenleben. So geriet İsmet Tekin, Mitarbeiter des Kiez Döner, ins Schussfeld, weil er seinem Bruder Rıfat zu Hilfe eilen wollte. Dieser überlebte nur, weil er sich hinter der Ladentheke hatte verstecken können.

Obwohl der Täter sich selbst versehentlich einen Reifen zerschossen hatte und von einem Polizisten mit einem Schuss am Hals getroffen wurde, konnte er flüchten. Auf der Magdeburger Straße wechselte er unvermittelt auf die Gegenfahrbahn und fuhr mit dem Auto Aftax I. an, einen Schwarzen Geflüchteten.

Um sich ein neues Fluchtfahrzeug zu besorgen, bog der Attentäter im Saalekreis von einer Landstraße in die Ortschaft Landsberg-Wiedersdorf ab. Dort forderte er von einem 51-Jährigen erfolglos dessen Autoschlüssel, woraufhin er diesen und seine Lebensgefährtin auf ihrem Grundstück mit Schüssen schwer verletzte. In einer nahegelegenen Autowerkstatt bedrohte er drei Männer mit seiner Pistole und flüchtete schließlich mit dem erpressten Fahrzeug. Einer der drei nahm mit seinem Auto die Verfolgung auf und informierte unterwegs eine Polizeistreife darüber, wo der Attentäter sich befand. Nachdem er einen Unfall mit einem LKW verursachte, wurde der Täter schließlich festgenommen.

 

Der Prozess gegen den Täter

Am 21. Juli 2020 begann der Prozess gegen den Täter vor dem Oberlandesgericht Naumburg. Aufgrund der Corona-Pandemie und der benötigten Platzkapazitäten wurde er in Räumen des Landgerichts Magdeburg geführt. Die Anklage lautete auf Mord in zwei Fällen, versuchten Mord in mehreren Fällen zum Nachteil von insgesamt 68 Menschen und weitere Delikten wie Volksverhetzung und Verkehrsdelikte.

Am 21. Dezember endete der Prozess nach 26 Verhandlungstagen. Der Täter wurde u.a. wegen zweifachen Mordes und versuchten Mordes in 64 Fällen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Das Gericht stellte eine besondere Schwere der Schuld fest. Die Schüsse auf den heutigen Betreiber des Kiez Döner, Ismet Tekin, wurden vom Gericht nicht als versuchter Mord gewertet. Auch das gezielte, ungebremste Zufahren auf Aftax I. mit dem Fluchtauto wertete es nur als fahrlässige Körperverletzung. Indizien wie die Tatsache, dass der Täter zu Beginn seines Livestreams ein Lied eingespielt hatte, in dem es explizit um das Töten von Menschen mithilfe eines Autos geht, bezog das Gericht nicht in seine Bewertung ein. Beide Überlebende, Ismet Tekin und Aftax I., kämpften weiter um juristische Anerkennung der Taten als rassistische Tötungsversuche. Ihre Revisionen wurden Ende März 2022 vom Bundesgerichthof als unbegründet verworfen.

Der Anklage der Generalbundesanwaltschaft hatten sich 43 Betroffene und Überlebende als Nebenkläger*innen angeschlossen, die von 21 Anwält*innen vertreten wurden. In vielen Zeug*innenaussagen vor Gericht wurde das Ausmaß von Betroffenheit deutlich: Angehörige, Verletzte und Überlebende sprachen über ihre traumatischen Erfahrungen am Tag des Anschlags und die Folgen des Erlebten. Nebenkläger*innen prägten den Prozess durch das Einbringen von Gutachter*innen, die sich genauer mit Antisemitismus in Sachsen-Anhalt oder der Online-Rezeption der Tat auseinandersetzten. Viele Betroffene formulierten Forderungen an Politik, Sicherheits- und Ermittlungsbehörden und Gesellschaft. Sie zeigten sich untereinander solidarisch und betonten, dass eine Auseinandersetzung mit der Tat nicht bei Einzelaspekten verbleiben darf, sondern Antisemitismus, Rassismus und Antifeminismus in ihrem Zusammenwirken und ihrer gesellschaftlichen Dimension erfasst und bekämpft werden müssen.

 

Öffentliches Gedenken

Am Tag des Anschlags versammelten sich abends hunderte Menschen auf dem Marktplatz in Halle und gedachten der Getöteten. Wenige Tage nach dem Anschlag wurde eine Menschenkette von der Synagoge bis zum Kiez Döner gebildet, deutschlandweit fanden Demonstrationen und Kundgebungen gegen Antisemitismus und Rassismus statt. Im Ultras-Block des HFC zeigten Fußballfans bei einem Spiel am 12. Oktober 2019 ein Banner mit der Aufschrift „Ruhe in Frieden Kevin“. Über 2000 Menschen folgten am 13. Oktober dem Aufruf von Halle gegen Rechts – Bündnis für Zivilcourage und Betroffenen des Kiez Döners und schlossen sich einer Demonstration durch Halle an, die unter dem Titel „Solidarität!“ stand. In Berlin fanden sich am 13. Oktober um die 10.000 Menschen zu einer Demonstration zusammen, auf der auch zwei Überlebende aus der Synagoge sprachen. Zahlreiche deutsche und internationale Politiker*innen äußerten sich zu dem Anschlag, einige besuchten in den folgenden Wochen die Tatorte.